Sönke Paulsen, Berlin
Die schleichende Entwertung der Realität
Unser Leben wird immer digitaler. Wir haben dabei nicht nur etwas zu gewinnen!
Eine junge Frau läuft durch die Stadt und telefoniert lebhaft gestikulierend. Der Zusammenstoß mit einer Touristin, die ihr Smartphone vor sich herträgt, um über Google Maps den Weg zum Hotel zu finden, ist vorprogrammiert. Opfer ist das Smartphone der Besucherin, das mit voller Wucht auf dem Boden aufprallt und einige unschöne Risse auf dem Display erleidet.
Ein vollkommen gewöhnlicher Unfall, wie er täglich überall passieren kann, eben auch in Berlin Charlottenburg, wo ich die Szene beobachtet habe.
Natürlich gibt es auch schlimmeres, bei dem das Smartphone eine Rolle spielt. Die junge Frau hätte, unaufmerksam wie sie war, auch überfahren werden können, vielleicht von einem Autofahrer der selbst mit seinem Smartphone beschäftigt ist.
Aber eigentlich ist das nur als Einleitung gedacht. Es soll demonstrieren, dass für viele Menschen inzwischen das Smartphone realer ist, als die Realität.
Einige benutzen es, um Unsicherheiten zu überspielen, aber die meisten haben das Smartphone fest in ihren Alltag integriert, der zu einer virtuell-realen Mischung geworden ist und nicht selten vergessen lässt, was tatsächlich die feste Konsistenz der Realität besitzt und was nur eine virtuelle Projektion ist, durch die man einfach hindurchlaufen kann.
Der Siegeszug des Smartphones beruht dabei darauf, dass es die Wirklichkeit anreichert und nicht selten die Langeweile beseitigt, unter der viele leiden. Gleichzeitig aber entwertet es die Realität als langweilig und nicht der Aufmerksamkeit wert. Somit schließt sich ein Teufelskreis der Entfremdung.
Wie viel von unserer Zeit verbringen wir überhaupt in der Realität oder im Kontakt mit ihr. Der Einwand ist erlaubt. Denn tatsächlich findet die Welt im Kopf statt, in unserer Vorstellung von ihr. Es gibt Neurowissenschaftler die davon ausgehen, dass unsere Realitätswahrnehmung zum großen Teil aus kontrollierten Halluzinationen besteht. Wir bilden uns etwas ein und versuchen dann zu überprüfen, ob es stimmen könnte. Der Haken ist nur: Wenn wir immer öfter die virtuelle Realität, das Internet, als Instrument unserer Realitätsprüfung nutzen, schließen wir uns in einer virtuellen Welt ein und von der Realität aus!
Wir kommen gar nicht mehr in Kontakt mit der wirklichen Welt.
Es handelt sich hier nicht um irgendein Problem des digitalen Zeitalters. Es ist das Problem!
Kontakte werden auch privat weitgehend digitalisiert. Das spart scheinbar Zeit, entwertet aber den Kontakt in der wirklichen Welt. Beziehungen verflachen bis hin zum Niveau der „Facebook-Freundschaft“.
Gleichzeitig gibt es erste zaghafte Ansätze in der Gesellschaft, sich gegen den digitalen Zwang zu wehren. In einem Artikel auf Netzpolitik.org geht es um Petra, die seit Jahren ohne Smartphone und Internet lebt, weil sie die psychischen Folgen der Digitalisierung fürchtet. Tatsächlich erlebt sie, wie sich die Schlinge langsam um sie zuzieht und sie immer weiter von der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Beispielsweise, wenn der Zugang zum Stadtbad nur noch digital ist oder das Busticket nur noch digital bezahlt werden kann. Eine Petition für ein Recht auf Leben ohne Digitalzwang hat bereits mehrere zehntausend Unterschriften.
Das alles wird die Entfremdung nicht aufhalten. Häufig haben Menschen, die voll vernetzt sind, keinerlei Verständnis für diejenigen, die eine so hochgradig digitale Lebensweise ablehnen. Eine neue Quelle der Spaltung unserer Gesellschaft, von der ohnehin nur noch wenig übrig ist.